Außenminister Çavuşoğlu Im F.a.z.-interview
Außenminister Çavuşoğlu Im F.a.z.-interview , 31.07.2016
Herr Minister, wenn die offizielle türkische Darstellung zutrifft, dann war der
Putschversuch vom 15. Juli auch ein Armutszeugnis für die amerikanischen
Geheimdienste: Da plant ein alternder muslimischer Prediger irgendwo in
Pennsylvania einen Militärputsch, aber CIA und FBI bekommen das nicht mit. Oder,
noch übler, sie verschweigen es dem Nato-Partner in Ankara. Ihr Vertrauen in die
Vereinigten Staaten muss erschüttert sein.
Es wäre falsch, zum jetzigen Zeitpunkt und ohne genügend gesicherte Informationen
die Schlussfolgerung zu ziehen, dass die Nachrichtendienste der Vereinigten
Staaten oder anderer Staaten von den Putschvorbereitungen Kenntnisse hatten,
diese aber nicht mit uns teilten. Eine Tatsache steht jedoch im Raum: Wir haben
es mit einer Schwäche der Geheimdienste sowohl in der Türkei als auch im Ausland
zu tun. Geheimdienste befreundeter Länder teilen ihre Erkenntnisse
üblicherweise. Auch wenn der Putschversuch vom 15. Juli nur von einer kleinen
Gruppe in der türkischen Armee unterstützt wurde, ist es ein Zeichen großer
Schwäche der Geheimdienste, wenn sie von der Vorbereitung eines so umfangreichen
Unterfangens nicht vorab Kenntnis erhalten konnten.
Sie schließen
die türkischen Geheimdienste ausdrücklich in Ihre Kritik
ein?
Ja, das haben
wir ja auch schon zugegeben. Aber da dieser Putschplan der Terrororganisation
Fethullah Gülensinnerhalb des
Militärs ausgeheckt wurde und da Streitkräfte im Allgemeinen und die türkischen
Streitkräfte im Besonderen von der Außenwelt abgeschottete Systeme sind, war es
natürlich auch nicht einfach, Informationen zu erhalten. Organisiert wurde der
Putschversuch allerdings von einer Person, die in den Vereinigten Staaten lebt,
weshalb die dortigen Nachrichtendienste und die zuständigen Behörden eigentlich
am besten darüber informiert sein sollten.
Wenn die
mächtigsten Geheimdienste der Welt nun aber nicht fähig waren, rechtzeitig etwas
über den Putschplan herauszufinden - wird die Türkei den Vereinigten Staaten
genügend Beweise vorlegen können, um die Auslieferung Fethullah Gülens
durchzusetzen?
Es besteht
kein Zweifel daran, dass seine Terrororganisation hinter diesem Putschversuch
stand. Das wissen wir auch deshalb, weil deren Verbindungen in unsere
Streitkräfte bloßgestellt wurden. Die Person, die in der Putschnacht unseren
Generalstabschef festnahm, wollte ihn mit Fethullah Gülen in Verbindung bringen.
Die Verbindungen der Putschisten mit der Terrororganisation sind bekannt, es
gibt Geständige. Frühere Polizisten, die aufgrund ihrer Verbindungen zu dieser
Organisation entlassen worden waren, haben auch an dem Putsch teilgenommen.
Einer wurde in der Putschnacht in einem Panzer aufgegriffen. Was hat jemand, der
aufgrund seiner Verbindungen zu einer Terrorbande aus der
Polizei entlassen
wurde, in einem Panzer zu suchen? Wir haben auch Listen mit den Namen derer
gefunden, die uns nach einem erfolgreichen Putsch hätten ersetzen sollen - alle
standen mit dieser Terrororganisation in Verbindung. All diese Erkenntnisse
werden wir mit den Vereinigten Staaten teilen und die Auslieferung Gülens
verlangen. Zuvor verlangen wir aber die vorläufige Festnahme Gülens. Die
Amerikaner dürfen es Gülen nicht erlauben, in ein anderes Land zu
fliehen.
Beabsichtigt
er das Ihrer Kenntnis nach? Wohin?
Wir haben
bestimmte Hinweise dazu erhalten. Seine Unterstützer in bestimmten Ländern
bereiten sich bereits darauf vor, ihn zu empfangen.
Die Leute, denen Sie all das vorwerfen, sollen nun angeklagt werden - wird es Beobachtern aus der EU gestattet
sein, die anstehenden Prozesse genauso lückenlos zu beobachten, wie
beispielsweise türkische Diplomaten und Journalisten den NSU-Prozess in München verfolgen dürfen?
Wir wollen,
dass dieser Prozess transparent ist. Frankreich hat nach einem einzigen
Terrorangriff, auch wenn es fraglos ein schrecklicher Terrorangriff war, den
Notstand ausgerufen. Wir haben schon an die zehn ähnliche Terrorangriffe erleben
müssen, ohne den Notstand auszurufen. Aber jetzt befinden wir uns in einer sehr
ernsten Lage. Wir sind bereit zum Dialog mit Europa und der Staatengemeinschaft.
Wir wollen im Gespräch bleiben und jede Frage beantworten. Wir streben enge
Kooperation an. Aber die Europäer dürfen nicht voreingenommen sein. Sie müssen
Abstand davon nehmen, indirekt die Putschisten zu legitimieren und sie als
unschuldig darzustellen. Ja, wir haben den Ausnahmezustand ausgerufen - aber
haben Sie hier irgendwelche Einschränkungen im täglichen Leben bemerkt, in den
Grundfreiheiten der Menschen? Unser Staat richtet den Ausnahmezustand gegen
seine eigenen Institutionen, nicht gegen das Volk. Unser Volk macht sogar Witze
darüber: Früher konnten die Türken nicht aus ihren Wohnungen, wenn der
Ausnahmezustand galt. Heute kommen sie nicht in ihre Wohnungen, weil sie auf den
Straßen für die Demokratie und für Erdogan und gegen die Putschisten
demonstrieren. Diese Demonstrationen sind übrigens auch eine Botschaft an all
jene in Europa, die unseren Präsidenten einen Diktator nennen.
Erlauben Sie,
zu wiederholen: Wird es Beobachtern der EU gestattet werden, im Gerichtssaal zu
sein, wenn die Prozesse gegen die vielen Beschuldigten nun
beginnen?
Als Außenminister bin ich nicht befugt, über den Ablauf von Gerichtsverhandlungen zu
entscheiden. Unsere Justiz wird solche Fragen entscheiden. Aber im
Außenministerium werden wir gemeinsam mit dem Justizministerium unser
Möglichstes tun, um die Transparenz dieser Prozesse zu gewährleisten. Und eines
ist sicher: Es wird Tausende, ja Zehntausende Prozesse geben. Ob sie öffentlich
geführt werden oder nicht, wird unsere Justiz entscheiden.
Betrachten Sie
es als antitürkische Kampagne, wenn in europäischen Medien gesagt wird, Erdogan
argumentiere in der Diskussion über die Todesstrafe sehr populistisch, indem er
sich hinter dem sogenannten Volkswillen
versteckt?
In demokratischen Ländern ist der Wille des Volkes nun einmal sehr wichtig. Waren
Sie denn nicht auf den Plätzen und Straßen unserer Städte in diesen Tagen? Haben
Sie nicht mitbekommen, wie viele Menschen sich dort versammeln und rufen: „Wir
wollen die Todesstrafe zurück!“ Wir bekommen Tausende SMS und Tweets, in denen
uns gesagt wird: ,Wenn ihr die Todesstrafe nicht wiedereinführt, werden wir eure
Partei nicht mehr wählen.‘ Solche Forderungen kommen aus dem Volk, das den
Putsch am eigenen Leib erlebt hat, das bombardiert, von Panzern zermalmt und aus
Hubschraubern beschossen wurde. Und alles, was Präsident Erdogan dazu gesagt
hat, war doch nur, dass er ein Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe
unterzeichnen würde, wenn das Parlament eine solchen Beschluss fassen sollte.
Wir sagen jetzt, dass sich die Lage erst einmal beruhigen muss. Die Emotionen
müssen sich legen, und dann können wir alles besprechen, auch mit den anderen
Parteien im Parlament. Wir können einerseits nicht so tun, als interessiere es
uns nicht, was unser Volk fordert, wollen andererseits eine solch wichtige
Entscheidung nicht aus einem Augenblick heraus fällen. Noch ist nichts offiziell
entschieden. Aber wenn Präsident Erdogan den Forderungen des Volkes Rechnung
trägt, sollte man das nicht Populismus nennen - denn darauf ist er gar nicht
angewiesen. Die Menschen lieben ihn. Nach den jüngsten Vorfällen sind die
Zustimmungsraten auf 70 Prozent gestiegen. Sogar die Opposition gab zu, dass sie
beruhigt war, als sie ihn in der Putschnacht wohlbehalten im Fernsehen sah. Und
unser Präsident stellt sich nun einmal nicht taub, wenn das Volk etwas fordert,
sondern evaluiert diese Forderungen gründlich.
Wenn man dem
Volkswillen folgte, würden womöglich auch die meisten europäischen Staaten die
Todesstrafe wiedereinführen. Wäre Europa dadurch ein besserer
Ort?
Als ich
Präsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarates war, habe ich immer
hervorgehoben, dass die Todesstrafe falsch ist, und mich dagegen ausgesprochen.
Aber gerade als jemand, der all das getan hat, sage ich jetzt, dass es falsch
wäre, die aus dem Volk kommenden Forderungen einfach zu ignorieren. Nur dürfen
solche Entscheidungen nicht in der Hitze des Augenblicks getroffen werden.
Vielleicht wird die Entscheidung darüber in einem Referendum fallen. Das sind
sehr ernste Fragen. Ich habe gerade mit UN-Generalsekretär Ban Ki-moon darüber
gesprochen und ihn daran erinnert, dass zwei der fünf Mitglieder des
UN-Sicherheitsrates die Todesstrafe anwenden.
Die Türkei ist
aber nicht Mitglied des UN-Sicherheitsrates, sondern EU-Beitrittskandidat - was
sie bei Einführung der Todesstrafe sicherlich nicht mehr
wäre.
Wir sind
Gründungsmitglied des Europarates. Bei solchen Themen hat die EU erst nach dem
Europarat Mitspracherecht. Die EU als solche hat sich ja bisher noch nicht
einmal der Europäischen Konvention für Menschenrechte unterworfen. Die EU hat
nicht das Recht, uns Lehren zu erteilen in dieser Sache.
Glauben Sie
ernsthaft, die EU wird mit einem Staat, in dem die Todesstrafe existiert, über
einen Beitritt verhandeln?
Ich spreche von etwas anderem. Die EU kann uns zu der Diskussion über die
Todesstrafe wie auch zu anderen Fragen natürlich ihre Ansichten mitteilen.
Versuche, uns zu belehren, und auf die Forderungen unseres Volkes mit Drohungen
zu reagieren werden aber zu nichts Gutem führen. Die EU kann sagen: „Wir würden
nicht wollen, dass ein Beitrittskandidat die Todesstrafe einführt. Das
widerspricht unseren gemeinsamen Werten.“ Damit haben wir kein Problem, denn
auch bei uns sind die Ansichten dazu ja nicht einhellig. Aber wenn die EU einem
Land, das nun schon im sechsten Jahrzehnt auf Abstand gehalten wird, mit der
Aufhebung des Beitrittskandidatenstatus droht, könnte dies das Gegenteil von dem
bewirken, was sich einige davon erhoffen mögen.
Vor nicht
allzu langer Zeit wurden im Zuge der Massenprozesse „Vorschlaghammer“ und
„Ergenekon“ in der Türkei Hunderte Unschuldige verurteilt und erst viel später
freigelassen. Man stelle sich vor, diese Prozesse hätten sich in einer Türkei
mit der Todesstrafe abgespielt.
Mein lieber
Freund, Sie stellen Ihre Fragen so, als ob die Einführung der Todesstrafe
bereits beschlossene Sache wäre. Dabei gibt es bisher nur die Forderung des
Volkes und die Reaktionen unserer Politiker darauf. Nichts ist entschieden, die
parlamentarische Debatte darüber hat noch nicht einmal begonnen. Es hat keinen
Sinn, jemanden vom Gegenteil einer Sache überzeugen zu wollen, die es noch
nicht gibt.
31.07.2016,
von Michael Martens
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